Elf Übersetzer_innen im Gespräch: Heute Ondřej Cikán

Wie sind Sie dazu gekommen, tschechische Literatur zu übersetzen? Ich wurde in Prag geboren und wuchs in Wien auf. Meine Großmutter hat mich mit dem tschechischen Symbolismus, Poetismus und vor allem K.H. Mácha ausgestattet, mit dermaßen lautmalerischer und wirkungsvoller Dichtung also, dass ich eine ähnliche auf Deutsch lang nicht gefunden habe. Wenn ich mit meinen österreichischen Freunden über Lyrik sprach, blieb nichts anderes übrig als zu übersetzen, weil die existierenden Übersetzungen nicht so funktionierten, wie ich es mir wünschte. Außerdem hatten wir schon im Gymnasium Latein und Altgriechisch, Übersetzung war also Teil des Unterrichts.

Haben Sie einen Übersetzungswunsch, den Sie sich bisher noch nicht erfüllen konnten? Ich habe viele Übersetzerträume. Zum Beispiel, dass es gelingt, das Prestige der tschechischen Dichtungstradition zu heben, und dafür sind wirklich gute Übersetzungen vonnöten. Als ich am Wiener Gymnasium ein Referat über Máchas „Mai“ hielt, sagte die Deutschlehrerin: „Schönes Gedicht, aber die Wortstellung ist daneben und die Metrik holpert.“ Katastrophe. Damals habe ich also beschlossen, Mácha selbst zu übersetzen. Ich würde mir auch wünschen, dass das Bewusstsein für die Formen der Dichtung insgesamt größer wird: Im Rhythmus der Sprache steckt der Rhythmus des Kosmos. Und wie sollen Übersetzer wirklich gute Arbeit verrichten, wenn sie den Unterschied zwischen Daktylus und Jambus nicht verinnerlicht haben oder nicht erkennen, dass dieses oder jenes formale Element die Aussage eines ganzen Gedichts verändert?

Gibt es in Ihrer langjährigen Übersetzungsarbeit ein Wort / eine Phrase, die besonders schwer zu übersetzen war? Ich suche mir am liebsten poetische Texte aus, von denen gesagt wird, dass sie unübersetzbar seien, also habe ich ständig etwas, das schwer zu knacken ist. Im Vergleich zur Lautmalerei von K.H. Mácha, den Pointen von J.H. Krchovský und der Bilderdichte von Otokar Březina machten mir jedenfalls die vielschichtigen Anspielungen und Wortspielereien von Josef Váchals „Blutigem Roman“ zu schaffen. Váchal hat seinen Roman mit absichtlichen Setzfehlern durchwebt, die oft als zusätzliche Illustrationen fungieren, wenn etwa die Häufung des Buchstaben „o“ an den Zeilenenden Wimmerl eines Hautausschlags andeutet.

Haben Sie ein tschechisches Lieblingswort und warum? Ein Lieblingswort habe ich nicht, das wäre ja schade angesichts so vieler schöner Wörter. Am liebsten sind mir jedenfalls diejenigen, die gewissermaßen die Schönheit der jeweiligen Sprache beweisen. Das Deutsche hat schöne technische und abstrakte Ausdrücke, die durch ihre Präzision hervorragen und dennoch auf Anhieb verständlich sind. Das Tschechische wiederum kann leicht völlig neue Wörter erschaffen, verfügt über wunderschöne Pflanzen- und Tierbezeichnungen, die die Liebe zu den benannten Wesen auszudrücken scheinen. So bin ich etwa bei Vítězslav Nezval auf die Hühnerrasse plymútka gestoßen. Auf Deutsch und in jeder anderen mir bekannten Sprache heißt sie „Plymouth Rock“ oder ähnlich. Kein Wunder, dass plymútky in Tschechien weiter gezüchtet werden, während „Plymouth Rocks“ anderswo in Vergessenheit geraten. Der Klang der Sprache hat einen Einfluss auf unsere Beziehung zur Welt, und daher gehört das Erschaffen von Schönheit zu den Aufgaben der Dichtung, auch wenn es heute aus der Mode geraten sein mag. Schließlich habe ich das Wort plymútka mit dem Neologismus Plimutchen übersetzt.

Was ist Ihr tschechischer Lieblingsautor / Buch? Ich habe auch kein Lieblingsbuch. Gute Beispiele für perfekt ausgeführte und ziemlich unterschiedliche Poetik sind meines Erachtens der „Mai“ von K.H. Mácha und „Der blutige Roman“ von Josef Váchal. Máchas tragisches Liebesgedicht und Váchals von Okkultismus durchdrungene Parodie auf Kolportageromane haben mehr gemeinsam als es scheint: absolute Liebe zur Sprache und Begeisterung für das Erschaffen vielschichtiger Assoziationen. 

Leipzig2020Tschechien sprach mit Ondřej Cikán und weiteren Übersetzer_innen, die eigentlich in Leipzig zur Buchmesse auftreten sollten, oder ein Buch oder eine Leseprobe der für die Leipziger Buchmesse 2020 nominierten Autoren übersetzt haben. 

Leipzig2020Tschechien dankt allen Übersetzer_innen für ihre Arbeit und ihren Einsatz für die Verbreitung der tschechischen Literatur.

Foto: York Sander

Hashtags: 
#übersetzer_innen #l20cz #lbm20

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